etwas

als ich klein war, hatte ich panische angst vor streichhölzern und vor ca. 50.000 anderen dingen, situationen, menschen, ich hatte ein olivgrünes freundebuch, in das sich meine ganze familie eintrug, mutter, vater, bruder, schwester, onkel, tante, nur die oma nicht, auf der zweiten seite rechts unten befand sich unter „meine liebsten hobbies“ | „was ich mag“ | „was ich nicht mag“ ein bereich, in dem man mir liebe wünsche hinterlassen konnte, dort steht: arbeite an dir, dann wird vielleicht mal was aus dir, sei nicht so empfindlich, sei brav (in der schule und überhaupt), jammer nicht immer so viel, mach was aus dir, mach was aus dir, MACH WAS AUS DIR

meine schwester navigierte mich durch traurige tage ohne die anwesenheit eines elternteiles, weckte mich jeden tag auf, brachte mich zum schulbus, machte mir die haare (manchmal), las mir aus ihren fanfictions über die kelly family vor, wusste ganz oft nicht, wie sie mit meiner traurigkeit umgehen sollte, versuchte, mir beizubringen, mit meiner anhänglichkeit, meinen ängsten und meinen eigenartigkeiten zu jonglieren, damit ich irgendwann jemand werden würde, der annehmbar war, jemand, der in dieser gesellschaft überleben konnte, auch wenn sie weggehen würde, sie gab alles und war oft überfordert, sie war häufig nicht dazu in der lage, ihre eigene wut zu verbergen, heute ist sie ein stein, sie verlor einen großen teil ihrer jugend, weil sie jung mutter geworden war, ohne jemals schwanger gewesen zu sein und sie sagte mir jeden tag, ich sei adoptiert, denn ich passe nicht zu dieser familie, so wie ich sei, und bestimmt meinte sie das als scherz, oder weil sie sich insgeheim sehnlichst wünschte, mich wieder zurückgeben zu können, um endlich selbst so leben zu können, wie es ihr zustand

sie war jahrelang die einzige, die sich überhaupt mit mir befasste, also blieb bei mir hängen: du gehörst nicht in diese familie, wirst gerade mal so toleriert, aber nur, weil sie dich nicht tatsächlich wieder zurückgeben können, dafür ist es zu spät, sie hätten sich nicht für dich entschieden, hätten sie gewusst, was auf sie zukommt, heute denke ich alle paar tage: du gehörst nicht in diese familie, du gehörst nicht zu dieser welt, du bist entkoppelt und verlierst immer mehr die verbindung, die du dir 30 jahre lang hart erarbeitet hast, wie lange kannst du dich noch halten?

selbst, wenn sie es nicht sagten, hörte ich in jedem ihrer worte: mach was aus dir, in jeder ihrer handlungen spürte ich: mach was aus dir und ich fühlte: ICH MUSS ETWAS AUS MIR MACHEN, weil ich offenbar NICHTS bin, ich muss alles geben, um endlich zu sein, heute frage ich mich, warum niemand sah, dass ich doch schon längst etwas war

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