have a good cry

Meine Mutter weinte immer viel, aber sie sagte nie: „Have a good cry, kid. Afterwards you’re gonna feel so much better.“ Mein Vater hat noch nie geweint. Er schneidet seit Jahrzehnten ein- und dieselbe Zwiebel mit einem sehr stumpfen Messer. Die Stückchen werden jedoch nie kleiner, sondern immer größer. Und meine Schwester wartet darauf, dass er sie auf ihren Teller legt, so wie mein Opa väterlicherseits früher den frisch geschnittenen Speck, den es nur einmal im Jahr gab. Mein Bruder weint womöglich heimlich, aber ganz genau weiß ich es nicht, weil er kein Teil meines Lebens sein will, nicht einmal eine Lebenshälfte lang (obwohl er ja mein Halbbruder ist). Meine Oma hat nur geweint, wenn es niemand sah, denn jeder sagte von ihr, wir stark sie doch war. Die Männer lagen ihr zu Füßen und wenn mein Großvater mütterlicherseits nach tagelanger LKW-Fahrt seinen Lohn im nächstbesten Gasthaus verspielte und versoff, fand man sie meistens unter ihrem Rock.

Ich weine jeden Tag.

Ich habe heute geweint, weil ich nach 30 Jahren wieder daran gedacht habe, dass sich ein Nachbarsjunge, er war gut 3 Jahre älter als ich, ich war damals 6, zu mir Nachhause einlud und darauf bestand, mit mir „Vater-Mutter-Kind“ zu spielen. Ich wollte eine brave Mutter sein und legte mich natürlich zu ihm unter die Bettdecke. Flashback zu Ende. Nicht weiterdenken. Ich habe mich dazu gezwungen, nicht mehr zu weinen, habe mich innerlich dafür geschimpft, habe mir gesagt: Es steht dir nicht zu, traurig zu sein und schon gar nicht, es zu zeigen. Hab dich nicht so, stell dich bloß nicht so an. Wie empfindlich kann man denn sein? Er hat es ja überhaupt nicht so gemeint, das war nur ein harmloses Spiel und du interpretierst da viel zu viel rein. Rede mit niemandem darüber, verlier kein einziges Wort, dann ist die Erinnerung schon bald wieder fort. Sei stark und erwarte dir nicht, dass dir jemand zuhören würde, würdest du es jemandem erzählen. Es gibt Dinge, mit denen musst du einfach leben. Und jetzt leb damit. Wieder. In 30 Jahren kannst du ja noch einmal schauen, wie es dir damit geht, aber dann bist du 66 und wie man ja weiß, weint es sich im Alter nicht mehr so leicht, weil da alle Körperfunktionen etwas eingeschränkt sind. Gut möglich, dass sich nur noch wenig Tränenflüssigkeit bildet, oder vielleicht bist du dann endlich so stumpf wie das Messer des Vaters.

Meine Therapeutin hat mich gefragt, warum ich meine Tochter nicht wenigstens ein bisschen loslassen kann. Ich habe gesagt, ich wüsste zu viel. Über Männer und Angst. Flashback in dieselbe Wohnung, selbe Zeit: Mein Bruder in seinem Zimmer, immer bereit einen Kübel eiskaltes Wasser auf die Terrasse zu schütten, wenn dieser großgewachsene, hagere Typ mit Schuhgröße 44 nachts wieder vor unserer Tür stehen würde, um uns zu beobachten. Ich mit der Bettdecke bis zum Hals gezogen, mein Körper starr vor Angst. Wer war nur dieser Mann und wieso sagte mir niemand, was er im Schilde führte? Warum weinte Mama heimlich unter der Dusche und glaubte, dass ich es nicht sehen würde?

Ich weine, wenn ich nicht weinen will. Im Regiobus, bei geschäftlichen Terminen, im Kurs, mitten im Film (ohne traurige Szene). Ich habe so lange versucht, sämtliche aufkeimende Gefühle zu verdrängen, einfach weiter wegzurennen, nichts sehen, nichts fühlen. Jetzt will ich weinen, weinen, weinen, aber gerade kann ich nicht.

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