frei am tiefengrund

Auf einer Autofahrt durch das vor Sonne und Hitze triefende Albanien, ein oder zwei Tage bevor meine beste Freundin und ich wieder in das Flugzeug steigen und in die österreichische Umgebung zurückkehren würden, habe ich es zum ersten Mal artikuliert. Ich weiß nicht mehr, ob ich am Steuer war oder sie, ob ich die Wellen übers Meer oder Blechkarosserien entlang der Straße rollen sah, als mir die Worte schwer, aber irgendwie doch, über die Lippen kamen. Ja, ich bin bi. I am queer. Das sollte doch ein einfacher Satz sein, sollten einfache Gedanken mit einfacher Struktur, einfach so ausgesprochen, egal ob Meer oder Straße, sollten einfach so sein. Doch für mich waren sie Hinkelsteine mit beschleunigter Zersetzung, stolperten bröselig aus meinem Mund, auf das Lenkrad und den Beifahrersitz, in unseren kleinen, schrulligen Mietwagen, in ihre Ohren. Sie war weder überrascht noch war sie es nicht. Auch ich war es nicht, wusste ich von meinem Sein ja eigentlich doch schon seit Jahren, mindestens seit über einem Jahrzehnt, irgendwo in meinem Unterbewusstsein zumindest, dort, wo alle Mehrgründigkeit sitzt. Artikuliert hatte ich mich weder vor mir selbst noch vor einer anderen Person bis zu diesem Moment. 

Spulen wir zurück. Vielleicht war ich 13, vielleicht 14 Jahre alt. Ich erinnere mich an eine Szene auf einer Geburtstagsparty von einer Schulkameradin. Wir hatten uns in ein Zimmer zurückgezogen und spielten Flaschendrehen. Wir, das waren nur Mädchen, zumindest erinnere ich mich an keine Jungs dabei. Warum wir Flaschendrehen spielten und wer auf die Idee gekommen war, weiß ich nicht mehr. Ich war es nicht. Ich war stets schüchtern gewesen, wenn es um Liebesgeschichten, um das Verhandeln von Sexualität, vor allem in größeren Gruppen, gegangen war – und für mich waren es bereits größere Gruppen, sobald die Zwei-Personen-Marke überschritten wurde. Nie hätte ich ein Spiel vorgeschlagen, bei dem es ultimativ um das Berühren von Haut und den Austausch von Körperflüssigkeiten gehen würde. Mein Dabeisein stellte ich aber auch nicht in Frage, der Wunsch nach Dazugehören übertönte meine Scheu. 

Da waren wir also, zu viert oder fünft, und die Flasche drehte sich. Die ersten Runden verliefen mit Kichern und kleinen Darings, wie einem Kuss auf die Wange, einem Kuss auf die Lippen, ein kurzes Betasten. Dann schlug jemand vor, nun doch einen Schritt weiter zu gehen und das nächste erdrehte Paar sollte sich im Zungenkuss üben. Wie es die Flasche wollte, war ich ein Teil dieses Paares – und mir gefiel das Erlebnis. Was ich damals nicht verstand, war, dass mir das Erlebte auf eine andere Art und Weise zusagte, als vermutlich den meisten anderen im Raum. Wie es für meine damalige erdrehte Partnerin war, weiß ich nicht. Wir sprachen nie darüber.

Forward. Zwei, drei Jahre später. Mein damaliger bester Freund comes out auf seiner Geburtstagsparty und verkündet in einem Satz seine nun offiziell begonnene Beziehung mit einem Klassenkameraden. Ich war stinksauer, fühlte mich verraten, hintergangen. Damals dachte ich, das wäre der Art und Weise seiner Verkündung, der langen Geheimhaltung mir gegenüber geschuldet. Heute denke ich, es war ein Zeichen der Frustration, dass er etwas wusste und es auch noch beschreiben, sagen, äußern konnte, wozu ich nicht in der Lage war und noch sehr lange nicht sein würde. 

Die Jahre verstrichen, ich versöhnte mich mit dem besten Freund, ich ging von einer heteronormativen Beziehung in die nächste. Kam nie wieder in Berührung mit einer Person, mit der ich aus dieser flauschig scheinenden, aber leicht kratzigen Norm gefallen wäre. Die Jahre verstrichen und ich vergaß meine Erlebnisse, meine Eindrücke, meinen Tiefengrund. 

Forward. Im Auslandsjahr gestand mir eine Bewohnerin desselben Studierendenheims ihr Interesse an mir. Ich entgegnete, dass ich nicht an Frauen interessiert war. Der Satz rutsche mir aus dem Mund, entfloh meinen Lippen, konnte nicht schnell genug gesagt sein. Danach ging er mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich bin nicht an Frauen interessiert. Oh, I’m so sorry, I’m not into girls.

Gegen Ende des Austauschjahres hatte ich den Satz so oft in meinem Kopf wiederholt, dass er sich wie eingebrannt in meine Stirninnenseite anfühlte. Hätte jemand meinen Schädel geöffnet, ich war mir sicher, der Satz würde dort tättowiert, schwarz auf blassrot, zu finden sein. Ich wusste, dass etwas off war, konnte aber nicht fassen, was. Wäre ich into girls gewesen, in diesem Moment, in anderen Momenten, immer? Als ich mich nach Monaten des Grübelns für einen Versuch mit dem gleichen Geschlecht bereit wähnte, um dieses Unbehagen, dieses Missbekommen schließlich zu ergründen, war die Bewohnerin nicht mehr im Studierendenheim. Von einer anderen wurde ich abgewiesen. Eine weitere interessierte sich nur für das weiße Säckchen. Ich versenkte mich wieder im Sand.

Zurück in Europa lernte ich einen Mann kennen, der kurz darauf zu meinem Langzeitpartner wurde, und das Tattoo wurde langsam grau, blass, durchsichtig. Die Schwere wurde annulliert, verlor an Bedeutung und hätte sich beinahe in der Feinstaubluft aufgelöst, wäre ich nicht plötzlich mit neuen Realitäten konfrontiert gewesen. Auf einmal waren da Personen in meinem Leben, Künstler:innen, Schriftsteller:innen, Fotograf:innen, die ihre Leben hinterfragten, ihre Träume neu träumten, ihre Welten neu erdachten. Was sich zunächst spannend als Außenstehende, doch unnahbar anfühlte, wurde mit jedem Tag mehr als ein bloßer noir. Und auf einmal war er wieder da, der Satz, tiefschwarz, der falsche, erlogene, taumelnde Satz, und es juckte unter meiner Kopfhaut. 

Ein Jahr vor Albanien saß ich mit Verwandten am großen Esstisch. Angeregt durch einen Bericht in der vorliegenden Zeitung alias Schundblatt, der ein Gesetz zur Legalisierung von gleichgeschlechtlicher Ehe oder ähnlich thematisierte, neigte sich das Gespräch in Richtung Homosexualität und kippte bald in einen Rant gegen Same-Sex-Marriage und Same-Sex-Sowieso. Das ist ja grauslich, sich das nur vorzustellen, zwei Typen. Zwei Frauen, ja das geht ja noch, aber zwei Männer, das ist ja nicht menschlich. Die Aussagen meines Onkels trafen mich schnell, ein glatter Durchschuss nach dem anderen. Bis zu diesem Kommentar hatte ich versucht, das Gesetz zu verteidigen, die queere Community zu verteidigen, aber nach zwei weiteren ähnlichen Bemerkungen von anderen Tischanwesenden konnte ich nicht mehr. Mir liefen die Tränen übers Gesicht. Ich packte meine Autoschlüssel, sagte, es sei Zeit geworden, und fuhr so schnell aus der Einfahrt, dass ich den nicht-anwesenden Ehemännern und Kindern das Auf Wiedersehen nicht schuldig blieb. 

Ich dachte an meinen besten Schulfreund von damals, an seinen ersten Freund, an meine Begegnung im Studierendenheim und dachte, dass ich wegen diesen Bekanntschaften so tief getroffen war. Was ich nicht wusste: Es ging um mich. 

Brauchte es einen Tränenfluss, der meine Gedanken aus der Deckung lockte und sie vor mir auf das Lenkrad spülte? Anscheinend brauchte es auch immer ein Auto. Nun habe ich keines mehr, aber über die Gedankenerschließungsphase bin ich ja nun auch hinaus. Wäre es ohne die wirklich abscheulichen, zutiefst in mir Aggressionen, Ängste und Hoffnungslosigkeiten auslösenden Kommentare meines Onkels zu jenem Moment im überhitzten Süden Europas gekommen? Muss vor jeder Veränderung ein Anstoß stehen? 

Albanien. Nach einem Fast-Kollaps meiner Begleitung, nach einer Verfolgungsjagd mit wilden Straßenhunden, nach Cocktails am Strand und einer freien Tagesverpflegung im Austausch für einen Song, schob sich der Gedanke durch meine Gehirnzellen und platzte – endlich – auf die Straße. 

Weiß es dein Freund? Nein. 

Wirst du’s ihm sagen? Irgendwann. 

Ich nahm mir fest vor, es ihm zu sagen. Vor meinem nächsten runden Geburtstag würde ich es ihm sagen, gesagt haben, wäre es Vergangenheit. Ich atmete tief ein und tief aus, nahm mir vor, es schon eher auszusprechen, und schwieg die kommenden Jahre klamm und ernst hindurch. 

Ein Jahr vor dem schicksalsträchtigen Tag wurde ich ungeduldig. Lass uns auf die Pride gehen! schlug ich vor. Noch nie war ich dabei gewesen, noch nie hatte ich mich in ein Umfeld gewagt, das mich verschlucken, mich mir zeigen, mich mir geben könnte. Aber nur zur Party danach. – Okay. Im Tanz näherte ich mich einer Freundin oder sie sich mir und auf den Fotos sind wir in enger Umklammerung, Haut an Haut, Lippen neben Lippen.

Zwölf Monate später ist das Gespräch Geschichte und die Beziehung auch. Bis eine Woche vor dem besagten Tag hatte es gedauert, unzählige Stunden Sorge und Sehnsucht hatte es gebraucht, bis ich den Mut zusammengenommen und es dann eines Abends doch ausgesprochen hatte. Ich muss dir übrigens noch was sagen und irgendwie fällt mir das voll schwer und ich weiß nicht ganz warum. Vielleicht hast du’s dir eh gedacht, vielleicht auch nicht, auf jeden Fall – ich bin bi. 

Nein, er hatte es sich nicht gedacht. Egal, oder nicht, denn im nächsten Augenblick stellte ich fest, er hatte mich überhört. Es wäre ja okay, einen Dreier mit einer zweiten Frau, das könnte er sich schon vorstellen. 

Die nächste Pride besuchte ich alleine mit Freund:innen und ich war von den aufheizenden Minuten vor der Parade über die Parade hinweg bis zur loslösenden Party dabei. Noch war ich nicht ganz angekommen, noch war ich froh, erst einmal ich zu sein und nur ich und das Leben so vor mir zu sehen, wie es nun sein konnte. Ich schwamm in dieser Perspektive, machte meine Züge durch die Menge, war frei. 

Braucht es immer den einen Kommentar, die eine Aussage, die ein neues Kapitel ins Rollen bringt? Meine Reise bis an diesen Punkt brauchte viele Kommentare und auch viele Minuten Echo. Rückblickend kann ich in allen lauten und leisen Momenten ihr Gewicht sehen. Egal, ob Blechlawine oder Meereswogen, Kuss auf Anleitung oder Tränenfluss – jeder dieser Augenblicke war ein Beitrag zur Freikehrung meines Ich. Meines vollständigen Ich, in all seiner Mehrgründigkeit, tief. 

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